Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Read online

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  »Bis Freitag!« Ich hob die Hand zum Abschied und sah ihr nach, bis der kleine knallrote Beetle am Ende der Straße abbog und in einer Staubwolke verschwand. Erst dann wandte ich mich dem Haus zu meiner Rechten zu.

  Es war nicht mehr so imposant wie bei unserem Einzug kurz nach meinem zehnten Geburtstag und auch keine der typischen eindrucksvollen Villen in der Gegend, dennoch wurde ich mit jedem Schritt, den ich darauf zumachte, aufgeregter. Die Absätze meiner Stiefel klapperten auf dem Steinweg und den drei Stufen, die zur Veranda führten. Aus dem Inneren war kein Laut zu hören, aber das hieß nicht automatisch, dass niemand da war. Zumindest hoffte ich das.

  Ich öffnete die Tür und stellte mein Gepäck im Eingangsbereich neben der Garderobe ab. Das Haus war noch immer so hell und einladend, wie ich es in Erinnerung hatte. Große Fenster, weiße Wände und ein geradliniger, heimeliger Einrichtungsstil. Dad hatte eine Menge Geld in dieses Haus gesteckt und Stella hatte bis heute nichts an der Einrichtung verändert. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, doch ich schluckte ihn hinunter. Jetzt war nicht der richtige Moment, um sentimental zu werden. Dafür blieb mir später noch genug Zeit. Trotzdem wollte das nervöse Flattern in meiner Magengrube nicht verschwinden.

  Vom Eingangsbereich aus gelangte man ins Wohnzimmer mit der angrenzenden Küche. Durch die hohen Decken wirkte es wie ein New Yorker Loft. Der Eindruck wurde durch das Geländer im ersten Stock noch verstärkt, das rundherum ging und einen freien Blick von oben ins Wohnzimmer ermöglichte. Eine Treppe aus dunklem Holz führte ins erste Stockwerk.

  »Aber es ist völlig egal, was ich zur Abschlussfeier anziehe, Mom«, hallte eine vertraute Stimme durch das Haus, kaum, dass ich einen Fuß auf die unterste Stufe gesetzt hatte. »Unter dem Talar wird das sowieso keiner sehen. Ich könnte auch in meinem Pyjama hingehen. Hey, das wäre doch mal ein Statement!«

  Ich lächelte. Vor meinem inneren Auge konnte ich förmlich sehen, wie Stella tadelnd den Kopf schüttelte.

  »Aber du wirst es wissen«, ertönte ihre weiche Stimme, als ich näherkam. »Ich möchte doch nur, dass du dich wohlfühlst, Liebes.«

  Ich blieb im Türrahmen zu Hollys Zimmer stehen und betrachtete meine Schwester von Kopf bis Fuß. Sie trug ein eisblaues Kleid mit dünnen Trägern und einem enganliegenden Oberteil, dessen Stoff in sanften Wellen von ihren Hüften abwärtsfloss und knapp über ihren Knien endete. Dazu hochhackige Schuhe in derselben Farbe.

  »Also in diesem Outfit musst du dir definitiv keine Sorgen machen.«

  »Das ist nicht für …« Sie verstummte und wirbelte zu mir herum. Sekundenlang erfüllte Stille den Raum, dann kreischte Holly auf und fiel mir so heftig um den Hals, dass ich strauchelte. Einen Moment lang kämpfte ich um unser Gleichgewicht, dann fand ich es wieder und schlang die Arme um meine kleine Schwester.

  »Du bist hier! Du bist hier!«, rief sie immer wieder und wäre wie ein Flummi auf und ab gehüpft, hätte ich sie nicht festgehalten. »Warum bist du schon hier?«

  »Soll ich wieder gehen?« Grinsend drückte ich sie fester an mich. »Denkst du etwa, ich lasse mir deine Abschlussfeier entgehen? Keine Chance.«

  »Aber die Feier ist erst nächste Woche!« Sie riss sich von mir los, hielt meine Hände jedoch so fest, als wolle sie sie zerquetschen. »Nicht, dass ich mich beschweren würde. Absolut nicht.« Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr langes dunkelblondes Haar hin- und herschwang. »Ich wusste nur nicht, dass du schon so früh kommen würdest. Aber das heißt nicht, dass du auch früher gehst, oder? Du bleibst den ganzen Sommer über?«

  Ich lächelte. Es war beinahe zwei Jahre her, seit ich das letzte Mal so lange zu Hause gewesen war. Selbst über die Feiertage war ich nur kurz geblieben, um dann schnellstmöglich wieder zurück zum Campus zu fahren. Dass ich diesmal ganze drei Monate zu Hause verbringen würde, war Hollys Wunsch gewesen, bevor es auch sie am Ende des Sommers in die Welt hinauszog.

  »Wie versprochen«, bestätigte ich und erwiderte den Druck ihrer Hände.

  »Wir haben erst in einigen Tagen mit dir gerechnet.« Über Hollys Schulter traf mein Blick den unserer Stiefmutter.

  »Stella.« Ich löste mich von meiner Schwester und umarmte sie. Sofort stieg mir ihr Geruch in die Nase. Die typische Mischung aus Sandelholz und Desinfektionsmitteln aus dem Krankenhaus erinnerte mich an unzählige Nächte, in denen sie von ihrer Schicht nach Hause gekommen war, nach uns gesehen und uns zugedeckt hatte. Egal wie spät es gewesen war.

  »Es ist so schön, dass du hier bist«, flüsterte sie kaum hörbar und möglicherweise auch etwas erstickt.

  Anders als Holly hatte ich unsere Stiefmutter niemals Mom genannt – und das hatte sie zum Glück auch nie von mir verlangt. Dafür erinnerte ich mich noch zu gut an meine richtige Mutter. Kurz vor ihrer Hochzeit mit unserem Dad hatte Stella mich beiseitegenommen und mir erklärt, dass sie es verstünde, wenn ich sie nicht Mom nennen wollte, da sie nicht vorhatte, jemanden zu ersetzen, der einen so großen Platz in meinem Herzen einnahm. Aber sie hoffte, eines Tages wäre auch ein kleines Fleckchen darin für sie frei. In genau jenem Moment hatte sie sich diesen Platz erobert und aus dem kleinen Fleckchen war ein Flächenbrand geworden. Daran hatten auch die späteren Ereignisse nichts geändert. Stella mochte nicht meine leibliche Mutter sein, aber sie war in jeder anderen Hinsicht wie eine Mutter für mich.

  »Lass mich dich ansehen.« Sie schob mich auf Armeslänge von sich und musterte mich mit ihrem scharfen Blick von oben bis unten. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass sie Ärztin oder einfach ein Naturtalent darin war, jedes noch so unscheinbare Detail zu registrieren. »Du bist dünner geworden. Geben sie euch nichts zu essen auf dem Campus? Und dein Haar ist kurz.« Sie zupfte an den leicht gelockten dunkelblonden Strähnen, die vorne länger und hinten kürzer waren.

  Ich sah zu Holly hinüber, die noch immer neben uns stand. Auf den ersten Blick würde uns niemand für Schwestern halten. Unsere Gemeinsamkeiten beschränkten sich auf die gleiche Haarfarbe, die vollen Lippen und die dunklen Brauen. Sogar unsere Augenfarben waren verschieden. Ich hatte Moms graue Augen geerbt, während sie die blauen von Dad hatte. Außerdem war Holly trotz ihrer achtzehn Jahre noch immer eine Handbreit kleiner als ich – womit ich sie für den Rest ihres Lebens aufziehen würde.

  »Es steht dir.« Stella trat lächelnd einen Schritt zurück. Wenn schon Holly und ich uns kaum ähnlich sahen, lagen ganze Welten zwischen uns und unserer Stiefmutter, denn an ihre exotische Schönheit kam keine von uns heran. Obwohl Stella ihr Haar aufgrund ihrer Arbeit meist zusammengebunden trug, konnte man die glänzende schwarze Mähne mit den kaum zu bändigenden Locken deutlich erkennen. Dazu ihre warmen braunen Augen, der Schönheitsfleck auf ihrer Wange und ihre makellose Haut mit olivfarbenem Unterton, die von Natur aus so aussah, als würde sie in Miami Beach leben … Um ehrlich zu sein, war ich noch immer überrascht, dass Stella nicht neu geheiratet hatte. An einem Mangel an männlicher Aufmerksamkeit konnte es nicht liegen.

  »Wo ist dein Gepäck?«, fragte sie.

  »Unten.« Ich deutete vage hinter mich in Richtung Treppe. »Ich habe nicht viel mit und wusste nicht, wo ich schlafen würde, also …«

  »Wo?« Stellas Augen weiteten sich. »In deinem Zimmer natürlich! Dachtest du etwa, wir hätten es in deiner Abwesenheit in einen Fitnessraum verwandelt?«

  Holly zog eine Grimasse. »Ich war ja dafür, aber Mom hat mich nicht gelassen.«

  »Thalia Holly Robertson!« Stella stemmte die Hände in die Hüften.

  Ich konnte nicht anders, als loszulachen, während meine Schwester beim Klang ihres vollen Namens zusammenzuckte.

  »Unglaublich.« Stella schüttelte den Kopf, aber mir entging das amüsierte Zucken ihrer Mundwinkel nicht. »Zurück mit dir vor den Spiegel, damit du dich endlich für ein Kleid entscheidest. Am besten noch bevor meine Schicht beginnt.«

  »Das wäre dann in fünfzehn Minuten«, erwiderte Holly nach einem schnellen Blick auf ihre Armbanduhr.

  »Dann solltest du dich besser beeilen.« Stella wirkte so gnadenlos, als wäre Holly einer ihrer kleinen
Patienten, die sich mit Händen und Füßen gegen eine Spritze wehrten.

  »Zu Befehl, Ma’am«, murmelte Holly ergeben. Einen Moment lang glaubte ich, sie würde mit den Augen rollen, aber dann würde Stella erst recht loslegen und so todessehnsüchtig war meine Schwester nicht. Unsere Stiefmutter mochte die Warmherzigkeit in Person sein, aber wenn sie wütend wurde, suchte man besser das Weite. In Südamerika zum Beispiel.

  »Apropos Kleid …« Holly drehte sich so schnell zu mir herum, dass der Stoff um ihre Beine wirbelte wie in einem alten Tanzfilm. »Callie braucht noch eines für den Ball.«

  »Ball?«, schaltete ich mich alarmiert ein. »Was für ein Ball?«

  »Eine Spendengala für die Kinderabteilung im Krankenhaus. Sie findet am Samstagabend statt.«

  »Es ist gut, dass du schon da bist, Liebes.« Stella warf mir ein Lächeln zu, während sie ein weiteres Kleid aus einer Schutzhülle hervorzog. Diesmal in einem kräftigen Grün. »So bleibt uns genug Zeit, für dich auch ein passendes Outfit zu finden«, fuhr sie unbeirrt fort.

  »Ähm …« Hilfesuchend sah ich zu Holly, doch die zuckte nur mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass …«

  »Oh doch«, widersprach Stella sofort. »Ich lasse keine Ausreden gelten. Du bist ein Teil dieser Familie und wirst zusammen mit uns hingehen.«

  Hinter ihr grinste Holly hämisch. »Selbst schuld, wenn du unangekündigt früher kommst.«

  Stella tat, als hätte sie das nicht gehört, und deutete auf eine weitere Schutzhülle auf dem Bett. »Am besten probierst du gleich die hier an, dann wissen wir zumindest schon mal Farbe und Schnitt. Anpassungen kann ich immer noch machen.«

  Ach du liebe Zeit. Wo war ich da nur hineingeraten?

  »Ich … hole erst mal mein Gepäck.« Und machte besser, dass ich aus der Schusslinie kam.

  »Feigling!«, zischte Holly und streckte mir die Zunge raus.

  Sorry, Schwester. Aber ich war nicht lebensmüde genug, mich mit Dr. Blackwood-Robertson anzulegen. Mit etwas Glück entkam ich ihrem Radar, bis es zu spät war, noch ein Kleid für mich zu finden. Ich war zwar hergekommen, um den Sommer mit meiner kleinen Schwester zu verbringen, aber eine Veranstaltung, bei der ich stundenlang über meine eigenen Füße stolpern durfte, war definitiv kein Teil dieses Plans.

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  Irgendetwas riss mich aus dem Schlaf. Ich schlug die Augen auf und versuchte zu verstehen, warum mein Herz auf einmal so raste. Warum nichts von Ambers leisem Schnarchen auf der anderen Seite des Zimmers zu hören war und weshalb der Mond in mein Zimmer schien, obwohl wir doch immer Jalousien vor den Fenstern hatten.

  Ich tastete nach meinem Handy auf dem Nachttisch. Zwei Uhr siebenundvierzig. Keine neue Textnachricht, kein verpasster Anruf. Nichts, das erklären würde, warum ich mitten in der Nacht aufgewacht war. Der Ton war an und die Lautstärke hoch, da ich im Wohnheim nur noch mit Ohrstöpseln schlief. Wenn Leute, die in derselben Etage wohnten wie du, erst in den frühen Morgenstunden in ihre Zimmer zurückkehrten und dabei auch noch irgendwelche Songs aus den Top 100 lallten, wurden Ohrstöpsel schnell zu deinen neuen besten Freunden. Allerdings war ich nicht mehr in meinem Wohnheimzimmer, sondern zu Hause, realisierte ich langsam. In meinem Bett. Durch die offene Bauweise des Hauses mit dem Geländer und der hohen Decke im Wohnzimmer drang jedes noch so kleine Geräusch bis nach oben ins Dachgeschoss.

  Ich setzte mich auf und rieb mir über die Augen, während ich lauschte. Das Haus war alt, aber selbst nach so langer Zeit der Abwesenheit sollte ich noch mit seinen Geräuschen vertraut sein, oder? Ich wollte mich gerade wieder hinlegen, als die Dielen unten knarzten. Unbewusst hielt ich den Atem an. War Holly auf der Suche nach einem Mitternachtssnack in der Küche? Stella konnte es nicht sein, sie war kurz nach meiner Ankunft zu ihrer Nachtschicht ins Krankenhaus gefahren und würde so schnell nicht zurückkehren.

  Ich sollte mich wieder hinlegen und weiterschlafen, schließlich war es nur ein leises Knarren gewesen, aber meine Sinne liefen auf Hochtouren. Mein Puls hämmerte wie nach einer langen Joggingrunde, ich hatte die Ohren gespitzt und starrte in die Dunkelheit meines Zimmers. Da! Schon wieder ein kaum vernehmbares Knarzen der Dielen. Das konnte nicht nur das Haus sein, oder? Bevor ich darüber nachdenken konnte, hörte ich ein weiteres Geräusch: das Splittern von Glas. Diesmal bestand kein Zweifel daran, dass irgendjemand durchs Haus schlich. Ich schob die Decke beiseite und stand auf. Barfuß tappte ich über den Holzboden zu meinem Kleiderschrank, der unter der Dachschräge fast die gesamte Wand einnahm. Darin lag noch immer mein alter Baseballschläger neben ein paar Schuhkartons. Ich zog ihn hervor und schlich zu meiner Zimmertür.

  Meine Finger zitterten vor Anstrengung, als ich versuchte, die Tür so vorsichtig wie möglich zu öffnen, dennoch erwischte mich das vertraute Quietschen eiskalt. Großartig. Wenn sich ein Einbrecher unten durch unser Silberbesteck wühlte, wusste er spätestens jetzt, dass er nicht allein war. Mit zusammengebissenen Zähnen schob ich mich durch den Spalt und ging die Treppe hinunter.

  Die Härchen an meinen Armen stellten sich auf und mir wurde bewusst, dass ich nur ein altes T-Shirt trug, das mir bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Damit gab ich sicherlich einen furchterregenden Anblick für einen potenziellen Einbrecher ab. Egal. Weiter.

  Ich erreichte das erste Stockwerk und mied alle Stellen im Boden, von denen ich noch immer in schlafwandlerischer Sicherheit wusste, dass sie knarrten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich Hollys Zimmertür. Sie war geschlossen und es brannte kein Licht, das durch die Ritzen scheinen könnte. Da meine Schwester sogar einen Feueralarm in unserem alten Zuhause verschlafen hatte, überraschte es mich nicht, dass sie das Klirren nicht gehört hatte.

  Über das Geländer spähte ich ins Wohnzimmer hinunter. Nichts. Keine Bewegung. Keine Geräusche. Keine verdächtige Gestalt, die durch das Haus schlich. Von mir selbst mal abgesehen. Das Wohnzimmer lag in unberührter Stille unter mir. Zwei Sofas neben dem Kamin, weiter hinten das Klavier, das ich seit Jahren nicht mehr angerührt hatte, und der lange Esstisch mit den hohen Stühlen. Ich streckte mich, konnte von hier oben aber nicht bis zur Küche sehen. Was ich aber deutlich bemerkte, war, dass nirgendwo im Haus ein Licht brannte.

  Leise schlich ich weiter und steuerte die Treppe ins Erdgeschoss an. Sie begann genau dort, wo der Flur nach rechts zu Hollys Zimmer und dem Bad abging, und nach links in den unbenutzten Teil des Hauses führte. Früher einmal waren dort das Büro meines Vaters und das Zimmer meines Stiefbruders gewesen, aber das war lange her. Seitdem hatte meines Wissens nach kaum jemand mehr einen Fuß in diese Räume gesetzt. In Gedanken betete ich darum, nur paranoid zu sein. Ich wollte keinem Einbrecher begegnen, der in meiner Vorstellung wesentlich gruseliger war als die toten Menschen, die ich während meines Studiums schon gesehen hatte.

  Ich war so darauf konzentriert, mich lautlos zu bewegen, dass ich keinen Gedanken daran verschwendete, dass jemand um die Ecke kommen könnte. Großer Fehler. Ich nahm die Bewegung nur aus dem Augenwinkel wahr. Instinktiv zuckte ich zurück, holte mit dem Baseballschläger aus und schlug zu. Das Holz traf auf Muskeln und Knochen und der Aufprall verursachte ein Vibrieren, das sich bis in meine Schulter zog. Ich sprang zurück, bereit, noch mal auszuholen, aber der Einbrecher packte den Schläger und hielt ihn fest.

  »Fuck!«, fluchte eine tiefe Stimme. »Was soll das?«

  Ich setzte bereits zu einer gepfefferten Antwort an, als mir bewusst wurde, dass ich diese Stimme kannte. Zumindest hatte ich sie schon einmal gehört und das vor nicht allzu langer Zeit. Ihr Besitzer hielt den Baseballschläger noch immer fest, trat jetzt aber einen halben Schritt näher. Und ich erkannte ihn. Trotz der Dunkelheit erkannte ich den jungen Mann vom Flughafen wieder. Dieselbe Kleidung, dasselbe Gesicht – und nicht etwa eine schwarze Kluft mitsamt Skimaske und Brechstange, wie zumindest ein kleiner Teil von mir erwartet hatte.

  »Was zum …?« Meine Stimme erstarb, dafür polterte mein Herz los. »Hast du sie noch alle, mitten in der Nacht hier herumzuschleichen? Ich dachte, du wärst ein Einbrecher!«

  »Bist du sicher?« Mit
der freien Hand rieb er sich über seine Rippen. »So wie sich das anfühlt, wusstest du genau, wen du verprügelst.« Er zögerte, als ich nicht reagierte. »Du erkennst mich wirklich nicht, oder?«

  Mein Herz hämmerte noch immer, nur war der Grund dafür inzwischen ein anderer. In meinem Hinterkopf begann sich ein Verdacht zu formen, aber ich wollte nicht daran denken, wollte es nicht wahrhaben, weil es einfach nicht sein konnte. Es war unmöglich.

  »Was ist los, Schwesterchen?« Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Hast du mich inzwischen nicht nur aus deinem Leben, sondern auch aus deinem Gedächtnis verbannt?«

  Nein. Einfach nein. Konnte bitte jemand die Zeit zurückdrehen? Denn ich wollte das hier nicht erleben. Nicht jetzt, nicht heute, niemals. Inzwischen hämmerte mein Herz so schnell, dass es mich nicht überrascht hätte, wenn es aus meinem Brustkorb geklettert und davongelaufen wäre. Das hätte ich ja am liebsten selbst getan. Einfach auf dem Absatz kehrtgemacht, mich wieder ins Bett gelegt und so getan, als wäre das hier niemals passiert. Als wäre nicht ausgerechnet mein Stiefbruder nach Hause zurückgekehrt. Der Mann, den ich seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte. Der Mann, der meinen Vater auf dem Gewissen hatte.

  »Keith …?« Ich erstickte beinahe an diesem einen Wort. Selbst ohne sein Nicken hätte ich gewusst, dass er es war. Keith Blackwood. Stellas Sohn. Ich schnappte nach Luft, doch nichts davon schien in meine Lunge dringen zu wollen. Fast so, als hätte mein Körper kurzerhand entschlossen, dass ich keinen Sauerstoff mehr zum Leben brauchte. Genauso wenig wie ein Herz. Denn das hatte Keith mir damals nicht gebrochen, sondern es herausgerissen und zugelassen, dass es gemeinsam mit meinem Vater starb.

  Meine Augen begannen zu brennen, eine klare Warnung, dass mir gleich die Tränen kommen würden. Ich verfluchte mich für diese Schwäche und blinzelte mehrmals, um das Gefühl zu vertreiben. Wut hatte schon immer gut funktioniert und jetzt pochte sie in meinen Adern und drohte mich wie eine Flutwelle mitzureißen.